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Der Verstand und die Liebe

Der Verstand  und  die Liebe

Der Verstand begegnete der Liebe und sagte zu ihr: „Gut, dass ich dich treffe. Ich habe schon oft über dich nachgedacht, aber ohne ein befriedigendes Ergebnis. Deshalb möchte ich dich geradeheraus fragen: Was ist dein Sinn?“ Ehe die Liebe antworten konnte, fügte der Verstand hinzu: „ Sag mir aber nicht, der Sinn bestehe darin, die Menschen glücklich zu machen. Ich habe zu oft gehört, dass du sie unglücklich machst.“

„Mein Sinn besteht darin, dass die Menschen an mir wachsen und zu sich finden. Durch mich werden sie zu denen, die sie sein können. Ich erwecke das Beste in ihnen und bringe es zur Entfaltung. Und ich schenke ihnen Glück und dass dieses Glück vergänglich ist, darfst du mir nicht anlasten. Nichts ist von Dauer auf dieser Welt. Und weder du noch ich haben die Macht, das Gesetz der Vergänglichkeit zu brechen.“

„Ich weiß“, sagte der Verstand, „allerdings verstehe ich nicht, warum die Menschen im allgemeinen sich so sehr vor dir fürchten, obwohl du ihnen angeblich so viel Gutes zu geben hast, während sie zu mir volles Vertrauen haben.“

„Das liegt daran“, antwortete die Liebe, „dass ich die Menschen ins Unbekannte führe, während du mit ihnen auf Wegen gehst, die sie gut kennen.“

„Aber du sagtest doch gerade“, wandte der Verstand ein, „ dass du ihnen den Weg zeigst, sich selbst zu finden.“

„Das tue ich auch”, erwiderte die Liebe, „denn ihr wahres eigenes Selbst ist den meisten Menschen unbekannt. Und daran bist du, mein lieber Verstand nicht ganz unschuldig.“

„Wieso?“

„Du bringst sie dazu, Schutzmauern gegen mich aufzubauen, indem du ihnen einredest, wie gefährlich ich sei und wie groß die Schmerzen und Enttäuschungen sein können, die ich ihnen bereite. Du lehrst sie mich zu fürchten.“

„Und habe ich nicht Recht damit?“ fragte der Verstand.

„Nein, du hast Unrecht. Die Menschen verletzen sich nicht an mir, sie verletzen sich gegenseitig. Und die Schmerzen, die sie erleiden, stammen nicht von mir, sondern daher, dass sie mein Wesen nicht tief genug verstehen können, wenn du sie unentwegt daran hinderst, sich ganz einzulassen? Denn nur so können sie mich wirklich kennenlernen – und sich selbst.“

„Dieses Gespräch hat keinen Sinn“, sagte der Verstand. „Wir reden aneinander vorbei.“

„Weil du nicht schweigend reden kannst“, erwiderte die Liebe.

 Hans Kruppa

 

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